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Balance halten

Das palästinensische Al-Harah-Theater in Beit Jala arbeitet gegen Konservatismus an – und damit für die Überwindung von Grenzen

Hakenschlagender Wind, hügelige Wüstenlandschaft, grell-staubiger Nachmittag. Eine Landschaft, in der trotz eines enormen kulturellen Reichtums noch kein Vielvölkerstaat gewachsen ist. Der Schauspieler Nicola Zreineh unterbricht meine Gedanken. Er stupst mich an und zeigt auf die Ziegen der Beduinen. Wie lang die hier schon wohnen, frag ich. Achselzucken.

Wir fahren in einem als Taxi gekennzeichneten VW-Bus, Bühnenbild und Requisiten auf dem Dach, auf der Straße nach Nablus und umkreisen Jerusalem von östlicher Seite, immer entlang der Mauer.

Issam Rishmawi, Mitbegründer und Cheftechniker des Al-Harah-Theaters in Bait Dschala, einer Stadt zehn Kilometer südlich von Jerusalem und zwei Kilometer südlich von Bethlehem, dreht die Musik lauter und beginnt zu klatschen. „Ana illi Alaiki mishtak …“ (Ich bin der Letzte, der dich immer lieben wird …), versuche ich mitzusingen. Die Schauspielerin Mirna Sakhleh neben mir kommentiert den Versuch, und Gelächter schallt über mich herein; man reicht mir Teigwaren aus Sesam mit Falafel und Kaffee.

Als skeptischer Deutscher von so viel guter Laune und freundschaftlicher Stimmung umgeben, beäuge ich misstrauisch den gutherzigen Humor meiner palästinensischen Theaterkollegen.

Tourbus vor Straßensperre

Entlang der Mauer – In einem als Taxi gekennzeichneten VW-Bus, das Bühnenbild auf dem Dach, tourt das Al-Harah-Theater mit „Warum?“, einem Stück über Aids, seit drei Jahren durchs Westjordanland.

 Atta Nasser passiert den Checkpoint zwischen Jerusalem und der jüdischen Siedlung Ma’ale Adumim zu Fuß und springt in unseren Bus. Er ist einer der wenigen Palästinenser, die „drüben“ wohnen. In unserem Bus spiegelt sich die teils widersprüchliche Vielfalt des palästinensischen Volkes. Die Schauspielertruppe ist jetzt vollständig. Wir fahren nach Anebta, ein Dorf in der Nähe von Tulkarem.

Vorbei an Checkpoints und Militärkonvois ist die geronnene Konfrontation zwischen Abwehr- und Belagerungshaltung unübersehbar. Die Zugriffsmöglichkeiten militärischer Einheiten sind stets spürbar.

Am Ziel angekommen heißt es abladen und aufbauen. Auch Mahmoud, unser Fahrer, hilft. Routiniert ist der sonst für Hochzeiten verwendete Saal schon nach einer Stunde in ein Theater umgebaut.

Die Zuschauer sind heute Jungs im Alter zwischen 14 und 17 Jahren. Ein Englischlehrer erzählt mir, dass viele der hiesigen Kinder das Meer nicht kennen. Aber man könne es sehen, vom Hügel oberhalb des Theaters. Ich frage einen Jungen, was er erwarte. So etwas wie einen Film über Aids, antwortet er mir.

Warum?“ lautet der Titel des Theaterstücks. Hochrangige Vertreter des Gesundheitsministeriums sind anwesend, denen zu Ehren die palästinensische Nationalhymne ertönt, zu der alle aufstehen. Ein staatstragender Akt. Im Vorfeld der Aufführung verteilen jugendliche Mitglieder der Rothalbmondgesellschaft Aufklärungsbroschüren.

Zwei engagierte Frauen halten Vorträge. Ein Junge wurde gebeten, eine Passage aus dem Koran vorzutragen – und tut das singsanggleich. Es ist eine Aufgabe, die sich viele im Saal ersehnen. Der Junge hat sich mit seiner schönen Stimme Anerkennung, einen sozialen Status geschaffen, das kann man sehen.

Nicola, ebenfalls Mitbegründer des Al-Harah-Theaters, spielt die Rolle des Vaters. Mirna spielt die Mutter und Atta den Sohn. Der hat sein Studium im Ausland abgeschlossen, doch das Glück der Heimkehr zerbricht an einer Diagnose. Ruba Bardawil spielt die Freundin aus Kindertagen, die nun Ärztin ist.

Sie diagnostiziert: HIV-positiv. Das Stück lässt Mutmaßungen freien Lauf, wie es zu der Infektion hatte kommen können: Sex, Bluttransfer, Drogen? Die Familie stürzt das in eine Krise. Des Nachts erscheint dem Sohn die Gemeinschaft als Gespensterwald, der ihn anklagt. Die Eltern putzen den ganzen Tag, als könnten sie sich davon reinigen. Die befreundete Ärztin genießt wegen ihres Berufes hohes Ansehen, sie gibt Hinweise und klärt auf; die Lage beruhigt sich.

In der von Leichtigkeit getragenen Inszenierung streifen sich die Schauspieler die familiären Rollenmuster en passant über und wieder ab, das amüsiert die applaudierenden Zuschauer. Einander zugewandt spielt das Ensemble ungezwungen und mit viel Energie, die Interaktion mit dem Publikum gelingt.

Auch in der Fragerunde danach gibt es keine Hemmschwellen. Raeda Ghazaleh, auch sie Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des Al-Harah-Theaters, Regisseurin des Stückes, erklärt mir dieses Verhältnis: Es sei eine Balance, das sensible Thema zu besprechen, aber man wolle auch nicht langweilen oder belehren. Aids sei ein für die palästinensische Gesellschaft mit einem Tabu behaftetes Thema. Viel zu viel würde geurteilt, weshalb ihr sehr an einer geänderten Gesprächskultur gelegen sei, die sich mehr zur Diskussion hin entwickle. Das 2005 gegründete Al-Harah-Theater kurvt seit drei Jahren mit „Warum?“ durchs Westjordanland. Pro Jahr und Tour zeigen sie die Aufführung 26 Mal.

Das Selbstverständnis am Theater ist durch Offenheit gegenüber dem Publikum und der Welt gekennzeichnet. Es sei gesund für die Truppe, wenn ausländische Regisseure oder Schauspielerkollegen ans Haus kommen, meint Ghazaleh.

So adaptierte der italienische Regisseur Pietro Floridia Franz Kafkas „Die Verwandlung“ für die Bühne, aus Schweden findet sich „Der Wechselbalg“ der Dramatikerin und Frauenrechtlerin Selma Lagerlöf gleich neben den „Brüdern Löwenherz“ von Astrid Lindgren im Repertoire.

„Bye Bye Gillo“ von Taha Adnan ist durch Bashar Murkus am Haus inszeniert worden und wurde regelmäßig nach Europa eingeladen. Darin geht es um Al-Gillalee, einen jungen Marokkaner, der illegal in Brüssel lebt. Geprobt wird im Beit Jala Community Centre, das mit Mitteln der autonomen Region Trentino gebaut und 2009 eröffnet wurde. Aufführungen in Bethlehem finden im Kulturhaus der Russischen Föderation statt. Zusammen mit Intercult Schweden ist für dieses Jahr die Gründung einer Schule für technische Theaterberufe geplant.

Was das Al-Harah-Theater deutlich von einigen anderen Theatern im Westjordanland unterscheidet, ist die poetische und praktische Distanz von einer bloß einseitigen Konzentration auf einen Opferstatus. Es gehe nicht nur um die Besatzung, bemerkt Marina Barham souverän. Sie ist die Vierte im Bunde der Gründer des Theaters Al-Harah und seine Generaldirektorin. Es gebe noch so viele Konflikte innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu ergründen, die Abwanderung und den damit verbundenen Braindrain, Gewalt gegen Frauen, Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen …

Marina, Raeda, Nicola und Issam sagen, dass es ihnen bei ihrer Arbeit vor allem um die Zukunft der Kinder gehe. Ihre Aufgabe sei es, die Lebensqualität der Kinder durch die Theaterarbeit zu verbessern, so sei Theater eine Möglichkeit, die Energien der jungen Menschen in innovative und kreative Bahnen zu lenken. Schließlich zeigten ihre Erfahrungen, dass Theater ein fester Anker gegen Fundamentalismus und Konservatismus sei. Die Kinder beginnen im Alter von zwölf Jahren am Theater. Als die Konflikte der 2010er Jahre tobten, waren George Matar, heute Marinas Verwaltungsassistent, und Sabrine Mukarker, Hausfotografin und Koordinatorin für das Projekt „Arabische Dramenliteratur“, so wie Atta und Mirna in genau diesem Alter. Die ältere Generation gab der jüngeren ein Heim, das heute international viel Anerkennung findet.

Klaus Hoffmann vom Arbeitskreis Kirche und Theater und Andreas Poppe vom Institut für Theaterpädagogik der Hochschule Osnabrück strukturieren zusammen mit der Kunsthochschule Dar al-Kalima in Bethlehem seit 2011 einen deutsch-palästinensischen Dialog über Theater und Theaterpädagogik. Bei dem dritten Treffen zwischen dem 28. Oktober und dem 2. November 2013 trafen Praktiker auf Theoretiker und Verwaltungsbeamte.

Es ist ein beidseitiger Know-how-Transfer, an dessen Ende ein multilaterales Expertennetzwerk für Theater in Palästina und Deutschland existieren soll. Das wäre schön, denn Theater könnte, so meine Hoffnung, den Weg zu einem Vielvölkerstaat in dieser herrlichen Landschaft auszubauen helfen.

Herwig Lewy

 Der Artikel erschien in der Zeitschrift Theater der Zeit, Januar 2014